In der Kognitionswissenschaft der Gegenwart wird die Ansicht weithin geteilt, dass menschliche Handlungen nichts mit Vernunft zu tun haben und auch nicht frei, sondern automatische, von unbewussten Prozessen und Gewohnheiten gesteuerte Vorgänge sind. Die meisten Philosophinnen und Philosophen, die sich heute mit der Frage beschäftigen, was menschliche Handlungen sind, würden dieser Ansicht zwar nicht zustimmen, aber sie würden doch behaupten, dass eine sehr bescheidene Idee von Vernunft ausreicht, wenn man verstehen will, was Handlungen sind. Nämlich die Idee einer instrumentellen Vernunft, die eine Handlung als begründet und vernünftig ansieht, wenn diese Handlung geeignet ist, irgendein Ziel umzusetzen, das die Handelnde zufälligerweise gerade umsetzen möchte. Über Moral und das Gute muss man demnach gar nicht nachdenken, wenn man verstehen will, was Handlungen sind. Dazu passen die heute tonangebenden Positionen in der normativen Ethik (nämlich teleologische Positionen) und der Metaethik (nämlich expressivistische und realistische Positionen), deren Vertreter/innen glauben, dass sie erklären können, was moralisch richtig ist und was das Gute ist, ohne über die Natur von menschlichen Handlungen nachdenken zu müssen.
Thomas von Aquins Theorie des guten Handelns steht zu all diesen Ansichten in einem direkten Widerspruch. Für Thomas gibt es keine menschlichen Handlungen, die moralisch neutral sind. Alles, was wir tun, ist entweder gut oder schlecht. Und zwar deshalb, weil jede menschliche Handlung unter der Herrschaft des vernünftigen Willens steht, der notwendigerweise auf das Gute ausgerichtet ist. Eine Handlung, die nicht auf das Gute ausgerichtet wäre, wäre daher, auch wenn sie keinerlei Schaden verursacht, nicht neutral, sondern allein schon deshalb -- weil sie nicht auf das Gute ausgerichtet ist -- gegen die Vernunft und damit schlecht. Dass unser Handeln aber notwendigerweise auf das Gute ausgerichtet ist, bedeutet für Thomas nicht, dass wir in unserem Handeln nicht frei sind. Wir sind nicht nur frei, die Mittel zu wählen, durch die wir das Gute verwirklichen, sondern wir sind sogar frei, an einer schlechten Handlung irgendetwas Gutes zu finden und sie dann in dem irrigen Glauben zu vollziehen, das moralisch Richtige zu tun. Für Thomas sind die Handlungstheorie (also der Teil der Philosophie, der sich mit der Frage befasst, was Handlungen sind) und die Moralphilosophie (der Teil der Philosophie, der fragt, was das Gute ist) untrennbar miteinander verwoben. Menschliche Handlungen lassen sich nur verstehen, wenn man sie als Versuche versteht, das Gute zu verwirklichen. Und das Gute lässt sich nur verstehen, wenn man es als etwas versteht, das durch menschliche Handlungen verwirklicht werden kann.
Wir werden uns diese unmoderne Theorie des guten Handelns anhand von Auszügen aus Thomas' Summa Theologiae erschließen und kritisch miteinander diskutieren, wie überzeugend wir Thomas' Erklärungen und Argumente finden. Wir beginnen anhand der Frage nach der Vollkommenheit Gottes (ST Ia, quaestion 4) mit einer kurzen Einführung in seine Metaphysik, die die Grundlage für die Handlungstheorie und die Moralphilosophie bildet. Dann wenden wir uns seinen Antworten auf die Fragen zu,
- was das Gute überhaupt ist (ST Ia, q. 5);
- was Leben ist (denn die menschliche Fähigkeit zu handeln ist nach Thomas Auffassung eine Fähigkeit des Lebewesens Mensch: ST Ia, q. 18);
- was der Wille und insbesondere der freie Wille ist ( ST Ia, q.s 80 bis 83);
- worin das Ziel des Lebens eines Menschen besteht (ST IaIIae, q. 1);
- was das natürliche Gesetz dem Menschen vorschreibt (ST IaIIae, q. 94);
- was der Unterschied zwischen freiwilligen und unfreiwilligen Handlungen ist (ST IaIIae q. 6);
- und welchen Beitrag zum Gutsein einer Handlung die äußere, objektive Handlung und die innere, subjektive Handlung jeweils leisten (ST IaIIae, q. 18).
In der letzten Sitzung werden wir uns beispielhaft eine von Thomas Begründungen für konkrete moralische Normen ansehen, nämlich im Hinblick auf die Frage, warum es im Allgemeinen verboten ist und unter welchen Umständen es doch zulässig sein kann, einen Menschen zu töten (ST IIaIIae, q. 64).