Wer sich mit der praktischen Philosophie befasst, stellt sich früher oder später die Frage, wie sich Moral und Recht zueinander verhalten. (Und wer sich in Regensburg mit praktischer Philosophie befasst, wird sie sich eher früher als später stellen.) Eine mögliche Haltung zu dieser Frage lautet, dass moralische Regeln und die niedergeschriebenen Gesetze, die in einem Staat gelten und über deren Einhaltung Gerichte wachen, zwei völlig verschiedene Sachen sind: während moralische Regeln (je nachdem, welcher Theorie moralischer Geltung man den Vorzug geben will) deshalb gelten, weil sonst Leid entsteht, das verhindert werden könnte, oder weil wir alle uns wie bei einem Vertragsschluss auf diese Regeln geeinigt haben, oder weil es irrational wäre, unmoralisch zu handeln, gelten die Gesetze eines Staates deshalb, weil der souveräne Gesetzgeber sie erlassen hat und auch über die Macht verfügt, ihre Einhaltung durchzusetzen. Der Gesetzgeber könnte also auch irgendwelche anderen Gesetze erlassen, die dann, eben weil er sie erlassen hat und durchsetzen kann, genauso gelten würden. Aber aus dieser Haltung heraus wird es schwierig, den Befund zu erklären, dass die Gesetze eines Staates nicht nur moralischen Regeln nicht widersprechen sollten, sondern dass diese Regeln und jene Gesetze zum großen Teil denselben Inhalt haben. Insbesondere das Strafrecht, und nicht nur unser deutsches, erweckt über weite Strecken den Eindruck einer peinlich genau ausbuchstabierten und systematisierten Niederschrift der grundlegendsten moralischen Regeln, zu denen die meisten Menschen sich bekennen würden, wenn man sie fragte: nicht zu töten und zu verletzen (es sei denn in Notwehr), nicht zu rauben und zu stehlen, die sexuelle Selbstbestimmung von anderen zu achten und so weiter.
Kant gibt in der Metaphysik der Sitten eine Antwort auf die Frage nach dem Verhältnis von Recht und Moral, die diesen Befund erklären kann. Sie lautet: Rechtliche Regeln sind ein besonderer Teil der moralischen Regeln, und zwar der Teil, dessen Einhaltung erzwungen werden kann. Wie Sie wissen, wenn Sie sich bereits mit Kants Moralphilosophie befasst haben, bestimmt Kant moralische Handlungen als Handlungen, die aus einem bestimmten Motiv heraus vollzogen werden, nämlich aus dem Motiv, moralisch (oder: „aus Pflicht”) zu handeln. Nun kann man aber niemanden zwingen, das, was sie oder er tut, aus einem bestimmten Motiv heraus zu tun, und nicht aus irgendeinem anderen. Man kann etwa eine Unternehmerin nicht dazu zwingen, einen Vertrag deshalb zu erfüllen, weil das moralisch richtig ist, statt ihn etwa deshalb zu erfüllen, weil sonst ihr Unternehmen bei den Kund/innen in Verruf geraten würde. Aber man kann die Unternehmerin durchaus dazu zwingen, das zu tun, was sie tun würde, wenn sie aus dem moralischen Motiv handeln würde, nämlich: den Vertrag zu erfüllen. Z.B. indem man den Vertragsbruch mit einer Strafe bedroht. Rechtliche Vorschriften sind nun laut Kant Vorschriften, die genau das vorschreiben, was moralische Regeln vorschreiben, ohne aber ein bestimmtes Motiv vorzuschreiben, aus dem sie einzuhalten sind. Rechtliche Regeln betreffen also, wie Kant sagt, nur äußere Handlungen, nicht die inneren Beweggründe von Handelnden. Diese Bestimmung fällt nach Kants Erklärung mit einer zweiten zusammen: die Regeln, die nur den äußeren Teil von moralischen Handlungen betreffen, sind zugleich die Regeln, die garantieren, dass jede und jeder frei ist, das zu tun, was die Freiheit von allen anderen nicht einschränkt. Kants Antwort auf die Frage nach dem Verhältnis von Recht und Moral mündet also in eine liberale Rechtsauffassung, der gemäß das Recht die Aufgabe hat, die gleiche Freiheit aller Subjekte der Rechtsordnung zu garantieren.
Wir werden in diesem Seminar Kants Bestimmung des Rechts in einer textnahen Lektüre nachvollziehen und uns erschließen, wie Kant sich die Anwendung des liberalen Rechtsprinzips auf zwei klassische Bereiche der Rechtsordnung vorstellt, nämlich auf das Privatrecht (Besitzrecht, Vertragsrecht, Ehe- und Familienrecht) und das öffentliche Recht (Staatsrecht, Völkerrecht, "Weltbürgerrecht").