Seit seinem Erscheinen 1942 hat der Roman L’Étranger des in Algerien geborenen französischen Nobelpreisträgers Albert Camus die Kritik fasziniert – allen voran den Philosophen des Existentialismus Jean-Paul Sartre, der ihm 1943 eine Besprechung widmete und Camus als bedeutenden Moralisten würdigte. L’Étranger gilt als ein Schlüsselroman der französischen Literaturgeschichte, reagiert auf Proust und Gide, bereitet mit seinen erzähltechnischen Neuerungen den Nouveau Roman vor und wird neben La Nausée von Sartre als der einschlägigste existentialistische Erzähltext geführt.
Es handelt sich um eine Ich-Erzählung aus Perspektive des Anti-Helden Meursault, eines Menschen ohne Eigenschaften und ohne tiefere soziale Bindungen, anspruchslos, durchschnittlich, der in einer weitgehend sprachlosen Welt in sanfter Hingabe an seine Sinneswahrnehmungen weitgehend glücklich vor sich hinlebt – laut Sartre in einem Zustand der „grâce“. Eines Tages – womit der Roman einsetzt – beginnt jedoch der Tod seine Routinen zu stören: Zunächst muss er seine Mutter begraben, was ihn – unbewusst – doch mehr beschäftigt als er meint und ihn zudem gesellschaftlichem Druck und Schuldprojektionen aussetzt. Nachdem wir als Leser etwas an seinem Alltag teilhatten, „unterläuft“ ihm schließlich infolge einiger unglücklicher Zufälle ein Totschlag. Er tötet am Strand einen Araber. Im zweiten Teil des Romans wird er dafür vor Gericht gestellt und zum Tode verurteilt, eine Konstellation, die Gelegenheit gibt, die von falschem Bewusstsein geprägte Gesellschaft und ihre verlogenen Rechtschaffenheitsvorstellungen zu demaskieren – und Meursault recht zu geben, der endlich rebellisch wird und seine absurde, aber angesichts der grundsätzlichen Kontingenz und Indifferenz der Welt nur ehrliche Lebensführung verteidigt. Der Tod eines Menschen sei so gut wie der eines anderen, seien doch vor dem Tod, zu dem sie alle verurteilt seien, alle gleich. Er fasst dies in die folgenden, nicht widerspruchsfreien Worte: „Que m’importaient la mort des autres. [...] Tout le monde était privilégié. Il n’y avait que des privilégiés. Les autres aussi, on les condamnerait un jour.“
L’Étranger, so heißt es, ist ein Roman, der sich mit der conditio humana befasst, mit der metaphysischen Absurdität des menschlichen Lebens schlechthin. Es ist dennoch ein Roman aus der Perspektive eines Europäers und eine europäische Selbstbespiegelung. Der getötete Araber, der gewissermaßen als Katalysator für Handlung und Erkenntnis dient, bleibt gesichts- und namenlos. 2013 lässt der auf Französisch schreibende algerische Autor Kamel Daoud in Meursault, contre-enquête den jüngeren Bruder des Getöteten auftreten, auf einer Suche nach dem Toten, einer Begegnung mit dem privilegierten (!) französischen Teil der Stadt und einer eigenen Konfrontation mit Mutter, Leben, Tod und gesellschaftlicher Verantwortung. Die Kritik schreibt: « le récit de Kamel Daoud constitue en quelque sorte le hors-champ de L’Etranger et son double en miroir »
(http://www.lemonde.fr/livres/article/2014/06/25/kamel-daoud-double-camus_4445128_3260.html#ltE1oJa4xXklLHa2.99).
Das Proseminar gibt Gelegenheit, Grundtechniken der Narrativikanalyse einzuüben, den Roman Camus’ vor seinem Zeithintergrund und im Kontext des Existentialismus ebenso wie in seiner gattungsgeschichtlichen Relevanz kennenzulernen. Zudem werden im Vergleich mit Daouds Antwort Techniken der dialogischen Intertextualität analysiert und anhand eines Beispiels in das Paradigma des postkolonialen writing back eingeführt.
Die beiden Romane sind bei Pustet bestellt und sollten bereits vor Beginn des Seminars gelesen werden. Ein Plan des Seminars mit den einzelnen Themen wird zu Vorlesungsbeginn auf Kurssoft bereitgestellt.
Zum Einlesen zu Camus sei zudem empfohlen: Brigitta Coenen-Mennemeier, „Die Existenz und das Absurde: Sartre, La Nausée (1938) – Camus, L’Étranger (1942)“, in: Wolfgang Asholt (Hgg.): 20. Jahrhundert. Roman, Tübingen: Stauffenburg, 2007, 219-267. Für Daoud: Es gibt interessante Kritiken im Internet!