Böhmische Musik und Musikermigration im 18. Jahrhundert
Wanderbewegungen von Musikern sind in der Musikgeschichte zu allen Zeiten zu beobachten. Sie hatten für den kulturellen Austausch innerhalb Europas eine wesentliche, kaum zu überschätzende Bedeutung. Für das 18. Jahrhundert spielte u. a. die Migration böhmischer Musiker (sowohl tschechischer als auch deutscher Herkunft – soweit feststellbar und von Relevanz) eine wichtige, in der Literatur immer wieder hervorgehobene Rolle. Die Wanderneigung lässt sich ebenso aus den sozialen, politischen und musikkulturellen Verhältnissen der böhmischen Länder allgemein erklären wie auch fallweise (belegbar oder rekonstruierbar) aus individuellen Motiven und bewussten Entscheidungen.
Das 18. Jahrhundert war in der Musik der böhmischen Länder eine Zeit signifikanter institutioneller Änderungen: Einerseits verlor der Adel als Kulturträger an Bedeutung, andererseits musste die durch zahlreiche Orden repräsentierte katholische Kirche (angesichts aufklärerischer Reformbestrebungen) ihr musikalisches Angebot reduzieren oder sogar einstellen. Ein bürgerliches Musikleben, das diesen Namen verdient hätte, hatte sich noch nicht herausgebildet. In dieser Situation sahen sich viele böhmische Musiker vor allem wirtschaftlich genötigt, ihre Heimat zu verlassen, die meisten wechselten in andere Teile des Kaisertums Österreich über (insbesondere nach Wien), in andere deutschsprachige Länder, aber auch nach Frankreich, England, Italien und Osteuropa. Vor diesem Hintergrund soll das Hauptaugenmerk auf einer Auswahl von Komponisten liegen, die in besonderer Weise an der Entwicklung zeittypischer Gattungen teilhatte oder sogar impulssetzend wirkte, unter ihnen Josef Mysliveček (Opera seria), Florian Gaßmann (Opera buffa), Georg Anton Benda (deutsches Singspiel, szenisches Melodram), Johann Stamitz (Sinfonie) und Jan Ladislav Dusík (Klaviersonate).
Literatur:
Musiker-Migration und Musik-Transfer zwischen Böhmen und Sachsen im 18. Jahrhundert, hg. von Hans-Günter Ottenberg und Reiner Zimmermann, Dresden 2012
Migration und Identität. Wanderbewegungen und Kulturkontakte in der Musikgeschichte (= Analecta Musicologica 49), hg. von Silke Leopold und Sabine Ehrmann Herfort, Kassel u. a. 2013
Johann Stamitz und die europäische Musikermigration im 18. Jahrhundert, hg. von Sarah-Denise Fabian, Silke Leopold, Panja Mücke und Rüdiger Thomsen-Fürst, Heidelberg University Publishing 2021
Freeman, Daniel E.: Mozart in Prague. Minneapolis, Bearclaw Publishers, 2013
Freeman, Daniel E.: Josef Mysliveček, 'Il Boemo'. Minneapolis, Calumet Editions, 2022
Schoenbaum, Camillo: Geschichte der böhmischen Musik. Von den Anfängen bis in die Zeit der Romantik, Regensburg, ConBrio, 2022