Protest und Widerstand sind feste Bestandteile unserer politischen Kultur. Man denke an die Studierendenbewegung von 1968 oder die großen Friedens-, Umwelt- und Frauenbewegungen des 20. Jahrhunderts. Auch in den letzten Jahren hat sich gerade bei jungen Menschen eine lebendige Protestkultur etabliert: von Demonstrationen gegen Rassismus und Polizeigewalt, den Umweltprotesten der „Letzten Generation“, bis hin zu Friedensdemos infolge des russischen Überfalls auf die Ukraine. Daneben haben Corona- und Impfgegner ebenfalls ihren Frust auf die Straße getragen. "Widerstand" wurde nicht zuletzt auch bei den rechtsradikalen Hasspredigten von AfD und Pegida skandiert. Wer sich mit (vermeintlicher) Ungerechtigkeit nicht abfinden will, wer die eigenen Interessen und Werte nicht in Politik und Gesellschaft vertreten sieht, macht sich mit lautem Widerspruch bemerkbar.
„Wir brauchen Filme, die protestieren, ein Kino, das sich vor das Volk stellt und gegen die Mächtigen“, meinte der linke Filmemacher Ken Loach, als er in Cannes für seinen Protestfilm I, Daniel Blake (2016) mit der Goldenen Palme ausgezeichnet wurde. Protest und Widerstand sind immer auch schon Gegenstand und Mittel des Kinos. Politische Filme nehmen auf vergangene und aktuelle gesellschaftspolitische Ereignisse und Entwicklungen Bezug. Sie fordern zur historischen Reflexion oder zu Solidarität und aktiver Teilnahme auf. Sie üben Kritik an bestehenden Verhältnissen, klären auf und können den Protest einer politischen Bewegung oder ganzen Generation zum Ausdruck bringen. Beispiele dafür sind etwa die Revolutionsfilme Sergei Eisensteins (u.a. Streik, 1925), die zeitkritischen Filme von Karel Reisz (Protest, 1966), Harun Farocki (Nicht löschbares Feuer, 1969) oder Christoph Schlingensief (Terror 2000, 1993), oder das politische Kino von Lina Wertmüller (Liebe und Anarchie, 1973), Rainer Werner Fassbinder (Die dritte Generation, 1979), Lizzie Borden (Born in Flames, 1983), Ken Loach (Sorry We Missed You, 2019) und jüngst von Venedig-Gewinnerin Laura Poitras (All the Beauty and the Bloodshed, 2022).
Darüber hinaus interessieren uns im Seminar prägnante Porträts diverser Jugend- und Protestbewegungen: etwa Michael Wadleighs Woodstock-Film (1970), Franc Roddams Mod-Musical Quadrophenia (1979) oder Sarah Gavrons feministisches Historiendrama Suffragette (2015). Anhand dieser und weiterer filmhistorischer Beispiele wollen wir im Seminar griffige Entwicklungen von Protest und Widerstand nachzeichnen und diskutieren, wie sich ihre jeweiligen Kulturen im Spiel- und Dokumentarfilm widerspiegeln. Wir fragen uns: Was schürt damals wie heute Protest und Widerstand und wie werden sie im Kino repräsentiert? Welche Bilder findet das Kino in den letzten 100 Jahren für die Breite und Vielfalt von Protestkulturen? Welche Bedeutung hat das Kino für den Widerspruch. Und wie können Film und Kino selbst zum Mittel und Raum des Widerstands werden?