Seit einigen Jahren scheint es, als verstünden wir die Welt nicht mehr - dabei war doch alles so klar! Im wiedervereinigten Deutschland wurde schnell kanonisiert, was "die Wende" von 1989 war, nämlich der verdiente Untergang des "Unrechtsstaates" DDR und eine aus der Gesellschaft selbst kommende Revolution gegen Unterdrückung und Mangel. Auch schien es so, dass diese Sichtweise auch auf das Ende anderer kommunistischer Systeme übertragbar sei und fester Bestandteil einer erneuerten europäischen Identität werden würde. Der liberale Demokratie hatte doch gesiegt, und nach ihr sollte nichts mehr kommen! Erste Zweifel kamen auf, als Putins Russland gegen Ende der 2000er Jahre begann, seine Demokratie als "gelenkt" zu präfigieren; sie wuchsen weiter, als nach der weltweiten Finanzkrise in Ungarn, Polen und anderswo rechtspopulistische Parteien an die Macht kamen, die nicht viel von der liberalen Gewaltenteilung hielten und nationale Identitäten höher werteten als individuelle Freiheiten. Seinen heftigsten Stoß aber erhielt unser Weltbild, als in den USA Donald Trump zum Präsidenten gewählt wurde und sich damit die weltweite Schutzmacht des Westens von ihren eigenen Prinzipien verabschiedete. Seither teilt sich unsere Öffentlichkeit in jene, die hoffen, die "Krankheit" des Rechtspopulismus werde wieder vorübergehen, und andere, die uns am Beginn eines neuen unübersichtlichen Zeitalters sehen - welches von vielen gefürchtet, von manchen aber auch ersehnt wird.
Vor diesem Hintergrund fragen wir im Proseminar, was 1989 und in den darauf folgenden Jahren im östlichen Europa eigentlich geschah, was sich "die Menschen" wünschten und welche Möglichkeiten sie hatten, diese Wünsche umzusetzen. Wir fragen, weshalb die kommunistischen Herrschaften zusammenbrachen, und warum das zum Ersatz bereitstehende neue Modell, das liberale, sich in vielen Ländern als weniger stabil erwies als anfangs geglaubt. Zu diesem Zweck lesen wir Schlüsseltexte und beschäftigen uns mit Fallbeispielen aus Ostmitteleuropa, aber auch mit Russland, Südosteuropa und Ostdeutschland. Kenntnisse in Sprachen des östlichen Europas sind erwünscht, aber keine Voraussetzung für die Teilnahme.
Einführende Lektüre: Philipp Ther: Das andere Ende der Geschichte. Über die Große Transformation. Berlin 2019.
Voraussetzung für Leistungspunktvergabe: Regelmäßige Teilnahme, Lektüre, Präsentation, Hausarbeit (mindestens 20 Seiten)