Mit dem Stichwort "systemische Mängel" bezeichnen wir Missstände, für die es im rechtlichen, meist aber auch im moralischen Sinne keine eindeutig Schuldigen, d. h. "Täter" oder unmittelbar für die Verhinderung oder Behebung Zuständige gibt (Beispiel: die aktuelle Flüchtlingsmisere). Es gelten aber auch Fälle als subsumierbar, in denen es wohl einen Zuständigen oder Schuldigen gibt, es aber nicht richtig erscheint, die ggf. katastrophalen Zustände seinem oder allein seinem Verhalten zuzurechnen (Beispiel: eine Umweltkatastrophe nach Havarie eines Tankerschiffs; elende Zustände in einem Pflegeheim mit überlastetem Personal). Mit der Implikation, dass "etwas im System falsch ist", verweist das Konzept jedenfalls auf Möglichkeiten der Abhilfe oder Prävention, die angesichts eines als untragbar empfundenen Missstands oft erst identifiziert und für die formelle Zuständigkeiten erst geschaffen werden müssen. Die explorativ angelegte, von Philosophie und Rechtswissenschaft gemeinsam getragene Veranstaltung macht mit handlungs- und moraltheoretischen sowie rechtlichen Konzepten, Unterscheidungen und Kontroversen bekannt, die für die normative Beurteilung solcher Missstände relevant sind. Nach einem ersten Brainstorming werden wir u. a. über den Begriff der Handlung und das Konzept der Zurechnung eines Sachverhalts zu einem Handelnden oder Unterlassenden, über die klassische Unterscheidung zwischen negativen (Nichtschädigungs-) und positiven (Hilfs-)Pflichten und ihre Bedeutung für unser Thema, über das mit dem Stichwort "System" Angesprochene und die Frage der evt. Letztzuständigkeit des Gesetzgebers, über die Art und Weise des Niederschlags all dieser Kategorien im geltenden Recht und natürlich auch über das Verhältnis von rechtlicher und moralischer Bewertung sprechen. Zur exemplarischen Vertiefung dient uns der in der öffentlichen Diskussion sogenannte Pflegenotstand. Auf der Basis einer aktuellen Klageschrift (Verfassungsklage) können wir uns hierzu hinsichtlich der faktischen Verhältnisse und des rechtlichen Rahmens sehr gut informieren. Je nach Fortschritt und zeitlichen Möglichkeiten werden wir den Blick evt. auch über den innerstaatlichen Anwendungsfall hinaus auf internationale Missstände (Hunger und andere sog. humanitäre Katastrophen) richten und die Besonderheiten einer rechtlichen und moralischen Bewertung thematisieren, die Staatsgrenzen überschreitet. Die Veranstaltung ist (mit unterschiedlichen Anforderungen für den LP-Erwerb) als Proseminar und als Hauptseminar anrechenbar. Für Erstsemester ist die Veranstaltung jedoch nicht gut geeignet; Grundkenntnisse im Umfang des Basismoduls Praktische Philosophie werden dringend empfohlen.