Muss es nicht eines der zentralen Ziele naturwissenschaftlicher Forschung sein, Probleme und Herausforderungen der Gesellschaft, in der sie betrieben wird, zu lösen? Muss Wissenschaft nicht überhaupt nützlich sein, um ihre Finanzierung durch die Allgemeinheit zu rechtfertigen? Gleichzeitig stellt sich die umgekehrte Frage, ob ein zu starker Anwendungsbezug nicht die freie Entfaltung wissenschaftlicher Kreativität und damit den Erkenntnisfortschritt behindert oder sogar in falsche Richtungen lenkt.
Mindestens seit der Entstehung der modernen Naturforschung in der Frühen Neuzeit stellt sich die Frage nach der Nützlichkeit wissenschaftlichen Wissens. Die sich formierenden Naturwissenschaften waren bemüht, ihre historischen Verbindungen zum Handwerk und anderen praktischen Traditionen zu verschleiern, um das von ihnen hervorgebrachte Wissen den epistemischen Sonderstatus zu geben, den es heute noch hat. Gleichzeitig war von Beginn an die Förderung dieser Forschung auf die Patronage durch weltliche und kirchliche Herrscher und Institutionen angewiesen und stand damit unter Rechtfertigungsdruck. Im 18. Jahrhundert rief der Erfolg der Naturforschung und die Nützlichkeitsrhetorik der Aufklärung ganz neue Formen von Anwendungsversprechen auf den Plan. Die zweite wissenschaftliche Revolution im 19. Jahrhundert mit ihrer engen Verbindungen zur Industrialisierung löste diese Versprechen bis zu einem gewissen Grad ein. Gleichzeitig sah das 19. Jahrhundert mit der Einführung der Forschungsuniversität auch die Erfindung der Grundlagenforschung, in der jeglicher Anwendungsbezug strikt abgelehnt wurde. Das Spannungsverhältnis zwischen Anwendungs- und Grundlagenforschung setzt sich bis heute gerade in wissenschaftspolitischen Entwürfen fort.
Im Seminar werden wir diese Geschichte am Beispiel der Biologie untersuchen. Nach einem kurzen Überblick über die Debatte vor 1850 werden wird anhand verschiedener Entwicklungen im 19., 20. und 21. Jahrhundert die Entwicklung der Biologie zwischen Grundlagen- und Anwendungsforschung in den Blick nehmen. Dabei sind die Selbstinszenierungen von Biolog*innen genauso wichtig wie die gesellschaftlichen und politischen Erwartungshaltungen. Wir werden hier klassische Moment wie die Entstehung von Molekularbiologie und Biotechnologie kennenlernen, aber auch eher unbekannte Episoden wie die Angewandte Zoologie im frühen 20. Jahrhundert. Den Abschluss bildet der Blick auf das sehr aktuelle Feld der Synthetischen Biologie, in der die Anwendbarkeit biologischen Wissens auf eine ganz neue Art formuliert wurde.
Das Seminar setzt keine Vorkenntnisse in der Wissenschaftsgeschichte voraus. Entsprechende Grundlagen werden veranstaltungsbegleitend vermittelt.
Does solving problems and challenges of society not have to be part of scientific research? Does science have to be useful at all to justify that it is financed by society? A the same time we can ask the opposite question: is the call for application not an obstacle to scientific creativity? Maybe it even steers scientific progress into wrong directions.
At least since the emergence of the modern sciences in the early modern period people are discussing the usefulness of scientific knowledge. In their formation, the sciences put a lot of effort in obscuring their historical relations to the crafts and other practical traditions. By doing this, scientists were able to claim the special epistemic status for the knowledge they produced that is still associated with it. Simultaneously, secular and religious leaders and institutions provided the necessary financial support. From the beginning, the sciences were under pressure to justify themselves. In the 18th century, the success for the sciences and the rhetoric of utility of the enlightenment brought about entirely new visions of application. The second scientific revolution of the 19th century with its close connections to industrialization held this promise to a certain degree. At the same time, the idea of pure research that rejected all connections to its application was born out of the research university, which was established in the 19th century. The tension between applied and pure research is continuing until today, especially in science policies.
In our course, biology will be our example to look into this history. After a short overview over the debates before 1850, we will learn about the ways in which biology developed between pure and applied research in the 19th, 20th and 21st century. We will pay attention to both the self-staging of biologists and to the societal and political expectations. Our examples will ranges from classical moments such as the emergence of molecular biology and biotechnology to unknown episodes like applied zoology in the early 20th century. We will close our course with a look into the most recent development of synthetic biology, a new field whose protagonists claim the applicability of biological knowledge in new ways.
The seminar does not require previous knowledge in the history of science. The relevant basics will be taught during the course.