Die Idee von der Nicht-Existenz der Aufklärung in Spanien ist lange Zeit ein Topos der europäischen Kultur- und Literaturgeschichtsschreibung gewesen, ein festes Element sowohl spanischer Selbstbeschreibungen wie europäischer (insbesondere französischer und deutscher) Heterorepräsentationen. „Nos ha faltado el gran siglo educador“, hatte der spanische Philosoph Ortega y Gasset am Vorabend des Bürgerkriegs geklagt und damit einerseits ein Stereotyp europäischen Bildungsbürgertums bestätigt, das seit Masson de Morvilliers berühmten Spanien-Artikel in der Encyclopédie méthodique, seit Voltaire, Montesquieu, Herder und Schlegel vom Fehlen der Aufklärung jenseits der Pyrenäen überzeugt war. Andererseits schrieb sich Ortega y Gasset mit seinem Befund einer „ausencia del siglo XVIII“ in einen nationalen, spanischen Diskurs des 19. Jahrhunderts ein, der bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein wirken sollte. Während der nationalkonservative Flügel der spanischen Historiographie den vermeintlich gelungenen Widerstand gegen den „ausländischen“ Einfluss aufklärerischen Gedankengutes zu betonen pflegte, beklagten die liberalen Wortführer, dass nach Humanismus und Reformation abermals eine Chance zur Modernisierung vertan worden sei. Dabei lag beiden Lesarten ein gemeinsames Verständnis zugrunde, das „sowohl die Existenz bestimmter Aufklärungsinhalte voraussetzte […] als auch deren überwiegend aus Frankreich importierten Charakter“ (Sáez-Arance 2008: 29).
Vor diesem Hintergrund hat denn auch die romanistische Forschung Spanien lange Zeit als ein Land ohne Aufklärung wahrgenommen. Eine Sicht auf das spanische 18. Jahrhundert, die nicht nur die Existenz der Ilustración prinzipiell bejaht, sondern auch nach den Spezifika einer spanischen Aufklärung im Vergleich zu den Bewegungen der europäischen Zentren Frankreich, Deutschland und England fragt, war demnach noch in den 1990er Jahren von erheblicher Skepsis begleitet (vgl. Jüttner 1991: II). Wiewohl in den letzten beiden Jahrzehnten einige zentrale Arbeiten und Sammelbände zur spanischen Aufklärung erschienen sind (vgl. neben den bereits zitierten Werken etwa Frank/Hänsel 2002, Tschilschke/Gelz 2005; Tschilschke 2009, Astigarraga 2015), stellt die Ilustración noch immer eine Herausforderung für die Aufklärungsforschung dar.
Die Vorlesung macht sich die skizzierte Perspektive der spanischen Aufklärung als einer Aufklärung jenseits der Zentren (vgl. Jüttner/Schlobach 1992, Kraus/Renner 2008, Butterwick/Davies/ Sánchez Espinosa 2008) zu eigen und geht den Spezifika der Ilustración nach. Sie skizziert die wesentlichen politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, widmet sich den Reformbemühungen unter Carlos III und stellt zentrale Autoren (u.a. Cadalso, Feijoo, Forner), Werke und Projekte vor, um so zu einer Bestimmung der Identität der spanischen Aufklärung (Tschilschke) zu gelangen.