Spätestens ab dem 18. Jahrhundert entdeckt die Literatur das Motiv der
Großstadt für sich. Bildeten Städte bis dahin nur die Kulissen eines
fiktiven Geschehens, Ortsbezeichnungen ohne Eigenleben, wird die Stadt
nun selbst zum Handlungsträger. In ihre Schilderung mischen sich bei
ihren Erzählern/innen von Anfang an Faszination und Skepsis in
unauflöslicher Ambivalenz. Neben Luxus, verlockender Angebotsfülle und
Reizüberschwang treten Sozialkritik an aus dem Ruder laufenden
Industrialisierungsprozessen, Darstellung von Anonymität und
persönlicher Isolation, existentielle Kritik der Stadt als Labyrinth und
Abgrund.
Derartige Schilderungen finden sich zunächst in Briefen, deren Mitteilungen privater Natur sind: etwa bei Heinrich v. Kleists Briefen aus Paris. Bald jedoch gerät die Großstadt zum Handlungsträger selbst: In E.T.A. Hoffmanns Erzählung Des Vetters Eckfenster, in E.A.Poe’s düsterer Kurzgeschichte Man in the crowd
, im bizarren Glanz der Großstadtlyrik des Expressionismus (Georg Heym,
Georg Trakl, Jakob van Hoddis etc.) oder im Lichte der
Großstadtliteratur des späten 20. Jahrhunderts und frühen 21.
Jahrhunderts: Alfred Döblin Berlin Alexanderplatz, Rolf Dieter Brinkmann: Rom, Blicke, Judith Hermann: Sommerhaus, später/Nichts als Gespenster. Diese Texte bilden neben theoretischen Studien zur Großstadtsoziologie (Georg Simmel: Die Großstädte und das Geistesleben, Richard Sennett: Fleisch und Stein) den Untersuchungsgegenstand des Seminars.